
Als staatlich geprüfter Bergführer und Skilehrer werde ich oft gefragt, worauf es beim Freeriding ankommt. Mit über 25 Jahren Erfahrung und tausenden Runs auf den Bergen dieser Welt gebe ich mein Wissen im eigenen Freeride Center im österreichischen Sölden weiter und einen Auszug möchte ich als Marmot Pro auch Euch gern geben.
01. Das praktische Risikomanagement
Die vorausschauende Einschätzung des Geländes – das Lesen eines Hanges – stellt die hohe Kunst des Freeridens dar. Es empfiehlt sich demnach bereits beim Hinauffahren mit dem Lift die Informationen, die wir aus dem Lawinenlagebericht haben mit der tatsächlichen Situation zu vergleichen. Die wichtigsten Fragen, die wir uns schon in der Vorbereitungsphase stellen sollten:
- Wie viel Neuschnee hat es wirklich gegeben?
- Wie stark hat der Wind die Schneedecke beeinflusst?
- Wie sind die Wetter- und Sichtverhältnisse?
- Wo sind die Gefahrenstellen?
- Wo gibt es eine sichere Line?
- Wo gibt es gute Sammelplätze?
- Wie werden die Schneeverhältnisse sein?
02. Lawinen: wo besteht heute Gefahr?
Vier Parameter bestimmen im Wesentlichen das Ausmaß der Lawinengefahr:
- Die Gefahrenstufe des Lawinenlageberichts
Je höher diese Gefahrenstufe ist, desto zahlreicher sind die potenziellen gefährlichen Hänge vorhanden. Umso höher ist folglich auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine Lawine auslösen können. - Die Streuung der Schneedeckenstabilität
Je unregelmäßiger die Schneedecke ist, desto „heimtückischer“ die Gefahr (weil schwer erkennbar) – in schneearmen Wintern gibt es sehr oft solch ein unregelmäßige Schneedecke. - Das Ausmaß einer Lawine
Je größer eine Lawine ist, desto höher ist die Gefahr komplett verschüttet zu werden. Aber auch sogenannte kleine „Rutscher“ können gefährlich werden. Sie können uns ohne weiteres in einen Graben oder über einen Felsen in den Abgrund spülen. - Die Steilheit des Geländes
Je steiler der Hang ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für die Auslösung einer Lawine sowie durch die höhere Beschleunigung auch eine Verschüttung.
03. Praktische Lawinenkunde
Beim Freeriden bewegen wir uns im winterlichen Hochgebirge, oftmals weitab von jeglichen Touristenströmen und geregelter Infrastruktur. Wir sind auf uns allein gestellt, denn hier gibt es keinen Pistendienst, der etwaige Gefahrenstellen markiert und für uns mitdenkt. Freeriden ist vor allen Dingen ein Denksport, der viel Selbstdisziplin, Know-How und Training voraussetzt. Es ist wichtig, dass du dich langsam ins Gelände vorarbeitest. Auch wenn du einen Kurs gemacht hast, bei dem du die Grundlagen der Schnee- und Lawinenkunde verinnerlich hast und die Notfallausrüstung kennst, bist du erst am Anfang deiner Freeride-Karriere. Ein guter Vergleich hierzu ist der Blick auf das Autofahren: der Führerschein berechtigt dich zum Fahren eines Autos, aber als Neuling auf der Straße bist du dennoch ziemlich überfordert. Die meisten von uns können zu Beginn nicht alle Einzelheiten überblicken und ohne intensives Training in allen Situationen sicher manövrieren.
Ein Kurs im Risikomanagement ist für uns Freerider demnach lediglich der Anfang, der uns dazu legitimiert im Gelände zu fahren. Erst nach vielen Abfahrten, Eindrücken und Erlebnissen, wirst du dir langsam ein Bild über verschiedene Situationen machen können.
04. Der Weg ist das Ziel
Es macht Spaß in und von der Natur zu lernen. Bleib also geduldig und genieße deine Tage am Berg. Verliere nicht die Geduld und begegne dem Berg stets mit dem nötigen Respekt. Gewöhne dir ein defensives Verhalten an, fahre nicht am Limit und lerne auch einmal zu verzichten. Selbt Profi-Freerider warten oft den ganzen Winter bis der eine Tag kommt, an dem eine bestimmte Line endlich gefahren werden kann und alles passt: die Form, das Wetter, der Schnee und die oder der richtige Partner.
Während dieses Lernprozesses gibt es auch keine wirkliche Abkürzung. Du kannst sämtliche Bücher zum Thema Lawinen auswendig lernen und weißt trotzdem noch nichts. Versuche also so oft wie möglich draußen am Berg zu sein und nimm alle Informationen auf, die der Berg dir gibt. Lerne wie man in die Natur schaut und daraus bestimmte Schlüsse ziehen kann.
Ein smarter Freerider verfügt über folgende Kenntnisse und Fähigkeiten (aus dem Buch „Das 3×3 der Lawinen“ von Werner Munter):
- Langjährige (und verarbeitete) alpine Erfahrung
- Nivologisches und meteorologisches Wissen
- Selbständiges und eigenverantwortliches Denken
- Scharfe Beobachtungsgabe, gute Sinnesorgane
- Gutes Gedächtnis (reiche Erfahrung) und schlüssiges Analogiedenken zum Vergleich mit früheren Situationen
- Kognitive Fähigkeit, komplexe und dynamische Vorgänge zu durchschauen (ganzheitlich vernetztes Denken)
- Intuition (Fähigkeit, auf Grund von unvollständigen und widersprüchlichen Informationen richtig zu entscheiden
- Kritische Selbsteinschätzung und menschliche Reife (man hat es nicht nötig, anderen zu beweisen, was man für ein Kerl ist, man kennt seine Grenzen)
- Entscheidungsfähigkeit in kritischen Situationen unter Zeitdruck und Risiko („decision making under risk“)
- Führungsqualitäten: natürliche Autorität, Überzeugungskraft und Durchsetzungsvermögen, soziale Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit, teamfähig, Rücksicht auf andere, Organisationsgabe und Improvisationstalent
- Taktik: Spuranlage, Timing, rechtzeitige Umsetzung von Vorsichtsmaßnahmen, vorausschauende Fähigkeit, Überblick, rechtzeitige Umkehr
- Orientierungstalent (Kartenlesen, Routensuche, Geländebeurteilung)
- Gute körperliche Kondition (Müdigkeit beeinträchtigt die geistigen Fähigkeiten)
Obwohl die Liste keineswegs vollständig ist, zeigt sie doch mit aller Deutlichkeit, dass Freeriden den ganzen Menschen fordert und eine breite Palette von körperlichen, geistigen, psychischen, charakterlichen Fähigkeiten und Begabungen nötig sind, um die simple Frage sicher zu beantworten: „Kann ich mit meinen Freunden bei diesen Verhältnissen diese Tour unternehmen?“
05. Vom Rookie zum Experten
Im Folgenden habe ich auf 4 Levels dargestellt, welche Fähigkeiten du auf den verschiedenen Stufen haben solltest bzw. wie deine Abfahrten auf dem jeweiligen Niveau aussehen könnten. In Verbindung mit der angeführten Schwierigkeitsskala, bekommst du somit eine Vorstellung wie „dein“ Lernweg in etwa aussehen könnte.
Fahrkönnen: sicheres Befahren von roten Pisten, flache Runs im Powder
Risikomanagement: Grundlagen der Schnee- und Lawinenkunde, Gebrauch der Notfallausrüstung
Abfahrten laut Schwierigkeitsskala: 1 Diamant
Fahrkönnen: sicheres Befahren von schwarzen Pisten, leichte Powderhänge kannst du schon Sturzfrei bewältigen
Risikomanagement: Du kannst die im Lawinenlagebericht beschriebenen Gefahrenstellen im Gelände schon zuordnen und findest eine sichere Line bei entsprechenden Verhältnissen
Abfahrten laut Schwierigkeitsskala: 1 und 2 Diamanten
Fahrkönnen: sicheres Befahren von allen Pisten, Powderhänge kannst du auch bei wechselnden Schneeverhältnissen Sturzfrei bewältigen. In steilen Rinnen und Couloirs fühlst du dich noch nicht so wohl. Du beginnst evtl. schon mit leichten Drops
Risikomanagement: Du kannst den LLB richtig Interpretatieren. Du siehst die „Alarmzeichen“ im Gelände und weißt, wie du dich verhalten musst
Abfahrten laut Schwierigkeitsskala: 1, 2 und 3 Diamanten
Fahrkönnen: sicheres Befahren von Powderhängen auch bei wechselnden Schneeverhältnissen, du fühlst dich auch in steilen Rinnen und Couloirs wohl und landest sicher den ein oder anderen Jump
Risikomanagement: Du kannst schon selbständig Touren planen und durchführen
Abfahrten laut Schwierigkeitsskala: 1, 2, 3 und 4 Diamanten
Schwierigkeitsskala (Diamanten)
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Steilheit
Ca. 30 Grad
Konditionelle und Technische Anforderungen
Niedrig: Bis 1000 hm Abfahrt, weite Flächen.
Orientierung – Routenfindung
Leicht: Vom Skigebiet ersichtlich, Einfahrt leicht zu finden, leichte Spurwahl, endet auf Piste.
Absturzgefahr – Sammelpunkte
Keine: Gute Sammelpunkte, allgemein keine Absturzgefahr über felsigem Gelände.
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Steilheit
Ca. 35 Grad
Konditionelle und Technische Anforderungen
Mittel: Bis 1000 hm Abfahrt, teilweise Enge Passagen.
Orientierung – Routenfindung
Mittel: Nicht ganze Route vom Skigebiet sichtbar, Einfahrt teilweise unklar, teilweise schwierigere Spurwahl, endet in Pistennähe.
Absturzgefahr – Sammelpunkte
Gering: Teilweise schlechte Sammelpunkte, vereinzelt Felsen aber guter Sturzauslauf.
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Steilheit
Ca. 35 – 40 Grad
Konditionelle und Technische Anforderungen
Hoch: Abfahrten über 1000 hm. Öfters steile Enge Passagen, Wechselnde Schneeverhältnisse sollten beherrscht werden.
Orientierung – Routenfindung
Schwierig: Route nicht einsehbar, Einfahrt oft unklar, Spurwahl erfordert Erfahrung, endet oft weiter weg von der Piste.
Absturzgefahr – Sammelpunkte
Hoch: Meist schlechte Sammelpunkte, häufig felsiges Gelände, Sturz kann zu einer Verletzung führen.
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Steilheit
> 40 Grad
Konditionelle und Technische Anforderungen
Sehr hoch: Abfahrten bis 2000 hm. Öfters Enge steile Passagen die ohne Sturz bewältigt werden müssen, wechselnde Schneeverhältnisse müssen beherrscht werden.
Orientierung – Routenfindung
Äußerst schwierig: Route nicht einsehbar, Einfahrt schwer zu finden, Spurwahl erfordert große Erfahrung, endet oft weit abseits der Pisten bzw. in einem anderen Tal.
Absturzgefahr – Sammelpunkte
Teilweise „No fall Zone“ – „Stürzen nicht erlaubt“: Exponierte Sammelpunkte, felsiges Gelände – Sturz führt zu einer Verletzung.
Neben dem Thema Risiko-Management erlebe ich in der Praxis immer wieder, dass ein zentrales Thema komplett unterschätzt wird: das Aufwärmen. Aus diesem Grund möchte ich Euch hier die wichtigsten Informationen für Euch zusammenfassen.
06. Warum ist Warm-Up wichtig?
Nimm dir die Zeit, dich auf das Freeriden vorzubereiten. Oftmals stehen wir nach einer langen Bergfahrt mit den Liften, am Einstieg unserer Line und sind zwar physisch anwesend, jedoch noch nicht in dem Maße „warm“, wie wir es eigentlich sein sollten. Um deine optimale Leistung zu bringen, solltest du Körper und Geist in Schwung bringen.
Das Aufwärmen im Sport ist die physische und psychische Vorbereitung für bevorstehende Bewegungsabläufe und Belastungen. Durch gut durchblutete, aufgewärmte und gedehnte Muskelgruppen wird die Verletzungsgefahr erheblich verringert und die allgemeine Leistungsfähigkeit gesteigert.
In der Aufwärmphase wird der Körper gelockert, die Muskeln werden dehnfähiger und die Sehnen und Bänder geschmeidiger gemacht. Durch den angeregten Körperkreislauf wird die Reaktionsfähigkeit verbessert, was wiederum das Unfallrisiko verringert.
07. Das Warm-Up ohne Ski
Für das Aufwärmen ohne Ski geben uns auch andere Sportarten viele Anregungen. Wichtig ist, dass die Aufwärmphase ernst genommen wird und man sich wirklich Zeit dafür nimmt. Folgender Ablauf kann als sinnvolles Beispiel für das Aufwärmen angesehen werden:
- Warmlaufen (im Stand oder im Kreis)
- Wenn du in einer Gruppe bist: Spiele (z.B. Staffel, Fangen, Reaktionsspiele etc.)
- Kreisende Bewegungen (Hüfte, Schultern, Hand-, Knie-, und Sprunggelenke
- Arm- und Beinkreisen (Balanceübungen)
- Überkreuzübungen: Überkreuzbewegungen lösen Blockaden: Wir bewegen gleichzeitig das rechte Bein und den linken Arm, beziehungsweise das linke Bein und den rechten Arm und führen sie zusammen. So aktivieren wir rechte und linke Gehirnhälfte und lösen Blockaden.
- Rumpfbeugen (vorwärts, rückwärts, seitwärts)
- Koordinationsübungen (Arm – Bein Koordinationsübungen, Gegengleich kreisen, Jonglieren etc.)
- Dehnübungen
Nach der ausführlichen Risikoeinschätzung und einen gutem Warm-Up steht Deinem Freeride-Abenteuer nun kaum noch etwas im Wege. Beginne dennoch am besten mit einer leichten Abfahrt auf der Piste. Baue verschiedene Übungen aus Deinem eigenen „Technikprogramm“ ein und steigere kontinuierlich das Tempo. Jetzt kann es losgehen!
Wenn Ihr mehr wissen möchtet oder einen Kurs mit mir buchen möchtet, freue ich mich auf Eure Kontaktaufnahme. Mehr unter: www.freeride-center.at
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